Schüchternheit

Schüchternheit ist Ausdruck eines unzureichenden Sicherheitsempfindens des Kindes. Es fühlt sich also in der gegenwärtigen Situation (noch) nicht ausreichend geborgen oder mit seinem Gegenüber noch nicht ausreichend vertraut und flieht deshalb in die Arme seiner Bindungsperson. Dieses Verhalten ist vollkommen normal und wichtig: es schützt das Kind davor, Fremden zu folgen oder etwas zu tun, was nicht mit den Werten seiner Primärbindungsperson übereinstimmt. Alles, was die Bindungsperson tun kann, damit die Schüchternheit nachlässt, ist, das Kind solange in seiner Nähe willkommen zu heißen und ihm Sicherheit geben, wie es anzeigt, dass es das braucht. Denn das Bedürfnis nach Nähe wird nur durch Nähe gestillt.

Der „böse-Onkel-Schutz“ veranlasst das Kind, sich Fremden gegenüber skeptisch und zurückhaltend zu zeigen. Merkt das Kind, dass seine primäre Bindungsperson mit dem Fremden vertraut ist, kann es selbst Vertrauen aufbauen. Die Beziehung der Eltern zum gegenüber schlägt also die Brücke für die Beziehung des Kindes zum Gegenüber. Auf diese Weise entsteht allmählich das sog. „Bindungsdorf“ für ein Kind.

Gegenwille

Der Begriff wurde zuerst von Otto Rank (österr. Psychoanalytiker) geprägt, der damit eine normale menschliche Dynamik aller Kinder umschrieb. Neufeld definiert den Gegenwille ebenso als instinktiven, automatischen Widerstand gegen jeden gefühlten Zwang eines Kindes und erklärt, dass Kinder, die sich für den Moment nicht aktiv an ihr Gegenüber gebunden fühlen, jede Autorität als „Herumkommandieren“ empfinden und dagegen aufbegehren. Insofern tritt der Gegenwille immer dann auf, wenn Erwachsene mehr Druck auf ein Kind ausüben als ihm die Bindungsbeziehung dazu Macht verleiht. Macht ein Kind Fortschritte bei der Selbstfindung und nimmt sein Bedürfnis nach Bindung ab, so wächst auch dessen Empfindsamkeit gegenüber Zwängen.

Aber: der Gegenwille hat sein Gutes: das Kind schützt sich damit intuitiv vor Tyrannei, vor unguten Einflüssen und Zwängen. Der Gegenwille fördert seine Autonomie und den eigenen Willen, unterstützt das Erwachsenwerden und Loslösen von den Eltern, verschafft ihm eigene Motivation und befähigt zur  Unabhängigkeit. Mit der Entwicklung echter Unabhängigkeit und Reife schwächt der Gegenwille ab: der Heranwachsende entscheidet, wann es sinnvoll ist, jemandem zu folgen oder den eigenen Weg zu gehen.

Wenn Sie in einen Machtkampf mit einem Kind geraten, liegt das meistens daran, dass Sie die Macht wollen und das Kind versucht, seine persönliche Integrität – zu der auch seine Würde gehört – zu schützen.

Jesper Juul

Gleichaltrigen­orientierung

Kleine Kinder brauchen Bindung, können sich aber selbst keine geeigneten Bindungspartner auswählen. Bindung geschieht intuitiv und ist lebensnotwendig. Wenn Kinder sie also nicht bei einem Erwachsenen finden, richten sie ihr Bedürfnis danach unbewusst (!) an Gleichaltrige, Kinder ihres Alters also. Dieses Phänomen lässt sich v.a. in Kindergruppen beobachten, wenn nicht genügend Erwachsene zur Betreuung da sind oder Erwachsene kein ausreichendes Bewusstsein für ihre Rolle als potenzielle Bindungsperson haben und ihrer Verantwortung als solche nicht gerecht werden.

Kinder orientieren sich dann aneinander, anstatt am erwachsenen Vorbild. Diese Bindungen sind natürlich ungenügend und konkurrieren mit den Bindungen an Erwachsene, was dazu führen kann, dass diese schließlich nicht mehr als „Leitwölfe“, Vorbilder und Signalgeber wahrgenommen, gehört, akzeptiert und respektiert werden. Damit fehlt dem Erwachsenen jegliche Legitimation zur Versorgung und „Erziehung“ des Kindes.

Wenn ein Kind sich am engsten an seine Gleichaltrigen gebunden hat, wird es diese nachahmen und imitieren, was die Grundlage für das Entstehen unreifer Beziehungen ist.

Deborah MacNamara